Zu viel Ziel – zu wenig Spiel! Gedanken-Anstoß meines Mannes zum Jahreswechsel

29. Dezember 2014 | Kategorie » BECK+RAUM+YOGA, Blog

 

Jetzt ist wieder die Zeit für Jahresbilanzen – auch im persönlichen Bereich. 

Was ist im letzten Jahr gelungen, was habe ich erreicht, in welchen Lebensbereichen bin ich zufrieden mit meinem Sein oder mit meiner Entwicklung. 

Und natürlich fallen sie dann wieder auf die ‚IST-SOLL-Diskrepanzen‘ oder auch ‚Realitätsklüfte‘ – die ‚Gaps‘ zwischen ‚Present State‘ und ‚Desired State‘. 

Naheliegend, dass sich daraus konkrete Strategien mit vielleicht noch konkreteren Zielen ableiten, um die Kluft zu überwinden und dann vermeintlich zufrieden und glücklich sein zu können. 

Also auf, FreundInnen, lasst uns – natürlich ‚wohlgeformte‘ – Ziele formulieren, sie uns in allen Sinneskanälen präzisieren und ganz für unser Unbewusstes präsent machen, damit wir uns ganz selbstverständlich ausrichten. Sind die Ziele noch zu wenig attraktiv, dann können wir sie ja noch ein wenig ‚pimpen‘! 

Und so werden dann wieder viele ZeitgenossInnen zumindest zu Beginn des Jahres klar und eindeutig orientiert auf ihre Ziele herumlaufen, überzeugt von deren Werthaftigkeit und Notwendigkeit, werden Ressourcen laden auf Teufel komm raus, werden erfolgreiche Mitmenschen ‚modellieren‘, netzwerken, was das Zeug hält, damit möglichst bald und möglichst schnell das Ziel erreicht sei und sich Glück und Zufriedenheit einstelle. 

Der geneigten Logotherapeutin und dem profunden Existenzanalytiker könnte hier Viktor Frankl in den Sinn kommen, der ein Phänomen im Bereich der Sexualität beschrieb, das er ‚Hyperintention‘ nannte und das auch in anderen Lebensbereichen durchaus anzutreffen ist. 

Man fixiert sich so auf ein Ziel, will es unbedingt hier und jetzt erreichen, setzt sich dadurch natürlich unter Druck und – gerade dadurch passiert gar nichts (so jedenfalls bei der Fixierung auf das Erreichen des Orgasmus). 

Das verkrampfte Erreichenwollen von Zielen ist also eher von gegenteiliger Wirkung als der gewünschten und führt obendrein noch zu weiterer Verunsicherung. 

Der Wille zur Lust – die ja zweifelsohne bei der Erreichung eines Ziels entstehen kann – führt dann auch noch zu einer ‚Hyperreflexion‘, denn man ist ja 

offenbar nicht gut genug, arbeitet noch unzulänglich (auch an sich selbst) und sollte deswegen tunlichst die ‚innere Problemlösemaschine‘ = den präfrontalen Kortex schalten und walten lassen, der dafür ja zuständig ist. 

Leider geht der dann meist nicht gerade sehr gnädig, sondern eher hart mit uns ins Gericht – Lust fällt dann meistens aus (und lustvolle Lösungen oft auch). Grübeln und damit die Fusion mit dem Problem ist oft die Folge – auch nicht gerade ober-lustvoll! 

Was also tun? 

Vielleicht sollten wir unsere Zielsetzungen bei aller Ernsthaftigkeit auch ein wenig lockerer und entspannter sehen. 

In einem hochkomplexen System, das wir ja schon als Menschen sind, ganz zu schweigen von der Komplexität sozialer Systeme, der Natur und der Welt insgesamt, gibt es viel mehr unberechenbare und un-steuerbare Phänomene als berechenbare (wobei uns aufgrund unseres Sicherheitsbedürfnisses natürlich die letzteren lieber sind), gibt es viel mehr ‚Zufälle‘ und ‚Ad-hoc-Entwicklungen‘ als wir oft meinen – nur müssen wir dafür auch offen und achtsam sein, sonst sehen wir sie mit unserem ‚Ziel-Tunnel-Blick‘ gar nicht und sie entgehen einem, wenn man nicht mit ‚Anfänger-Geist‘ in der Welt ist. 

Diese Achtsamkeit gelingt aber nur, wenn wir uns dem Diktat der Zielorientierung sowohl im wirtschaftlichen als auch im privaten Bereich immer wieder entziehen: Zeit für regelmäßige Meditation, die wohltuende Bewegung des Körpers ohne ‚Fitness-Hintergedanken‘, der Genuss einer Ernährung, die nachhaltige ‚Geschmackslust‘ hergibt, das spielerische Miteinander in der Partnerschaft, das mehr von achtsamer Zärtlichkeit als ‚Orgasmus-Rekorden‘ geprägt ist, die persönliche Auseinandersetzung mit ‚religiösen‘ und philosophischen Themen, mit denen man nie endgültig fertig wird, die gemeinsame Gestaltung von Kunst, Kultur und auch Religion in der Gesellschaft … 

In all diesem Tun bzw. auch Lassen ist viel ‚Spiel‘ drin: Lockerheit, Entspannung, Freude an der Kreativität, Absichtslosigkeit, die doch Befriedigung schenkt, da passiert viel Positives und wirklich Beglückendes für einen selbst und auch für eine Gemeinschaft ohne dass es vorher dazu ein Ziel gäbe! 

Ich wünsche mir, Ihnen und uns gemeinsam, dass wir auch im neuen Jahr bei aller berechtigten Zielorientierung dieses ‚Spiel‘ im Auge behalten und seine positiven Wirkungen ganz oft erfahren dürfen! 

27.12.14 copyright by Helmut Beck